Geschichten

Julia: „Oh Romeo! Ich wünscht’, die Zeit und mit ihr alle außer dir blieben stehen, bis ich bei
dir wär’. Doch so unbarmherzig, so unbeirrt wie jeden einzelnen Tag rinnt die Zeit
weiter und will und kann mir diesen vermessnen Wunsch nicht erfüllen. Bald schon ist
Donnerstag! Oh, ich wünscht’ mir blieb ein andrer Weg, als diesen Trank zu
schlucken… Ich fühl’ mich, wie von tausend Dolchen gepeinigt, allein bei dem
Gedanken… Doch es muss wohl sein.
Denn wie sonst sollt ich die Heirat abwenden? Wie, wenn doch selbst die gute Amme
der Meinung ist, ich solle den Grafen ehelichen? Und sagte ich’s meinem Vater, so
könnte ich gewiss kein freundlich’ Wort erwarten. Er würde es wohl weder glauben
noch dulden. Oh mein Romeo, geliebter Romeo! Muss denn die Liebe, die unsre, ein
solch unwegsamer, verschlungener, nie enden wollender, verwirrender Pfad zwischen
Glück und Unglück sein? Was, oh was, haben wir denn je so Falsches getan? War unsre
Liebe denn schon, bevor sie ihren Anfang nahm, verurteilt um zu scheitern? Ach mein
Gatte, Romeo, wäre ich doch mit dir gegangen nach Mantua! Und hätte nur einen Brief
zurückgelassen hier! Weh mir, oh weh mir...“

Amme (vor der Tür): „Fräulein Julia ? Ich hört euch schluchzen und klagen – ist etwas
gescheh’n?“

Julia: „Nichts ist gescheh’n, güt’ge Amme. Nur einige rührsel’ge Zeilen las ich. Ich bitt’
darum, lasst mich nun wieder allein.“

Amme: „Wie ihr wünscht, Fräulein. Verlanget nach mir, wenn ihr etwas braucht.“ (geht)

Julia: „Das werd' ich tun.“ (tritt ans Fenster) „Oh, ihr Vögel auf weiter Flur, wie könnt ihr nur
so fröhlich singen, wo doch für mich meine Welt und mein armes, unschuld’ges Herz
zerbricht. Wenigstens für einen Moment – haltet ein! Doch, oh, warum sollten sie? Sie
fühlen nicht Julias Leid und nicht Romeos Schmerz, sie fühlen nur die Freude über den
Tag, der sich bald dem Ende neigt. Liebster Romeo, oh hätt’ es nichts gegeben, dieses
Schicksal abzuwenden? Nun bedrückt unsäglich’ Schmerz mein armes Mädchenherz
und ich fühl ein Unheil nahen, so drückend wie die schwüle Luft vor dem
Gewittersturme… Was ist, wenn der Trank, den der gute Mönch mir bereitete, seine
Wirkung verfehlt oder gar zu stark ist? – Nein, nein, das darf ich nicht sagen, nicht
einmal denken sollt’ ich dran. Das Tränklein wird schon seine Wirkung tun, so wahr
Gott auf der Seite meiner Liebe steht. Ach, Romeo, ich wünscht’, es wär’ anders
gekommen…“